Entwicklung

Theater-AG „Die Mücken“ 1995-2010

Homo sapiens – homo faber – homo ludens: In einer Theater-AG denkt, schafft und spielt der Mensch.
Alle interessierten Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 7 – 10 können seit 1995 in der Theater-AG mitwirken – alle, die Spaß am Nachahmen, Ausprobieren und Experimentieren haben, alle, die Lust am Sich-Darstellen und am Darstellen anderer verspüren und die neugierig darauf sind, sich in verschiedene Figuren hineinzuversetzen.
In vierzehn Jahren konnten über 350 Rollen besetzt werden: Mehr als 200 Darsteller wirkten so motiviert und engagiert auf der Bühne mit, dass sie über die zwei AG-Stunden hinaus für unsere gemeinsame Sache monatlich ein Wochenende einbrachten und einmal im Jahr für eine ganze Woche die Koffer packten, um die jeweilige Inszenierung in Bremen, Osnabrück, Münster, Göttingen oder Lüneburg intensiv vorzubereiten.
Die Schauspielerinnen und Schauspieler wurden von über 40 Mitarbeitern in den Bereichen Technik, Bühnenbau/Kulisse, Ausstattung (Kostüme, Requisiten), Plakat, Maske und Musik unterstützt. Fast 40 Akteure hielten uns drei und mehr Jahre die Treue; sie begannen häufig als Dienstmädchen oder Butler, Postbotin oder Fischerjunge, bis sie in Hauptrollen zu schlüpfen wagten. Einige Westersteder Familien – Bohemann, Froböse und Hartmann – brachten geradezu Schauspielerdynastien hervor.
So blicken wir heute schon stolz auf eine kleine Tradition zurück:

„Fliegenäugige Monster in der Aula unserer Schule! ‚Die Mücken’ stechen das erste Mal zu.“ So hieß es kurz vor den Sommerferien 1996 in einer Einladung an die Schulöffentlichkeit und die Klassen der umliegenden Orientierungsstufen zur allerersten Premiere der Theater-AG, die es sich auf die Fahnen geschrieben hatte, Schülerinnen und Schülern schon frühe Bühnenerfahrungen vor und hinter dem Vorhang zu ermöglichen. Unser Erstling „Ein Häuschen auf der Venus“ (1996), der sich besonders an die Jahrgänge 5 und 6 wendete, erleichterte uns den Einstieg in die Schauspielkunst, den Bühnenbau und das Beschaffen bzw. Erstellen von Kostümen und Requisiten, denn er war trotz einer Musik- und Tanzeinlage nur 40 Minuten lang.
Wir bauten eine notgelandete Rakete, einen ferngesteuerten Roboter, aus Teesieben Fliegenaugen für die Monster und machten aus der Aula-Decke dank Disco-Kugel einen Sternenhimmel. Bei allem Spaß an der Vorbereitung stellte sich in den letzten Probenphasen und kurz vor der Premiere leichtes Unbehagen ein, weil es eben um ein Kinderstück ging. Wie würde das Publikum, wie würden vor allem die eigenen Klassenkameraden oder gar ältere Mitschülerinnen und Mitschüler reagieren? Obwohl wir dann bei unserem jungen Orientierungsstufen-Publikum viel Beifall fanden und auch ältere Zuschauerinnen und Zuschauer sich wohlwollend äußerten, beschlossen wir, in der folgenden Saison ein Stück auf die Bühne zu bringen, das den eigenen gymnasialen Ansprüchen besser entsprechen sollte.

Mit der abendfüllenden Dürrenmatt-Komödie „Herkules und der Stall des Augias“ (1997) wagten die „Mücken“ einen Riesensprung. Nun hatten wir es mit einem Text zu tun, der sich nicht auf den ersten Blick erschloss, der Widerstände bot, aber das Interesse über die vielen Probenmonate hinweg wachhielt. – Herkules (Jonathan Hartmann), die sagenumwobene Heldenfigur der griechischen Mythologie, ist bei Dürrenmatt ein von finanziellen Nöten geplagter, seiner vermeintlich großen Taten überdrüssiger Held mit Beziehungsproblemen. Von Augias (Merle Stets) nach Elis gerufen, soll er für ein Honorar das ganze Land säubern, das in seinem eigenen Mist – Korruption, Schlendrian, Cliquenwirtschaft, Bürokratie – unterzugehen droht.
„Mücken umschwirren Misthaufen“ titelte die NWZ am 15.10.1997 im Lokalteil; und weiter hieß es: „Es geht zwar um Mist, aber es ist keiner […]“ Neben dem schauspielerischen Engagement und der ausgereiften Inszenierung wurde auch die Bühnenausstattung gelobt: „Diese [die Bühne] gestaltete die Arbeitsgemeinschaft mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln zu einem großen ‚Misthaufen’, als dessen Platzhalter geruchsfreundlichere Strohballen das Bild bestimmten“; in der Tat war es eine ganze Wagenladung voll, die in die Aula hinauf- und wieder hinuntergetragen werden musste, ein Unterfangen, dessen Geriesel nicht nur uns, sondern auch so manche Putzfrau zur Verzweiflung brachte. (► Foto Nr. 1)
„Das Komische gilt als das Minderwertige, Dubiose, Unschickliche, man lässt es nur gelten, wo es einem so kannibalisch wohl wird als wie fünfhundert Säuen. Doch in dem Moment, wo das Komische als das Gefährliche, Aufdeckende, Fordernde, Moralische erkannt wird, lässt man es fahren wie ein heißes Eisen […]“ (F. Dürrenmatt). Mit der Komödie hatten wir „Mücken“ eine zustechende Form entdeckt, der wir mit wenigen Ausnahmen in den Folgejahren treu blieben.

Nach Bärenfell und Lendenschurz konnten die Darstellerinnen und Darsteller in Oscar Wildes brillanter Gesellschaftskomödie „Lady Windermeres Fächer“ (1998) endlich in großer Robe englische Salons des ausgehenden 19. Jahrhunderts betreten und als aufsteigende, protzige Bürgerliche die adlige Lebensweise nachahmen.
Lady Windermere (Melanie Wagho), von ihrer Tante puritanisch erzogen, führt als junge Ehefrau und Mutter ein standesgemäßes Leben in der adeligen Londoner Gesellschaft. Ihre glückliche Ehe wird in Frage gestellt, als „gute Freunde“ sie über ein vermeintliches Verhältnis ihres Mannes mit Mrs. Erlynne (Frederike Potthoff) aufklären, einer Frau mit zweifelhafter Vergangenheit. Zaudernd verlässt Lady Windermere Mann und Kind und begibt sich in die „Obhut“ eines Verehrers (Jonathan Hartmann), der ihr ein Leben außerhalb Englands bieten will. Schließlich erweist sich Mrs. Erlynne als Lady Windermeres totgeglaubte Mutter, die die Ehe ihrer Tochter wieder ins rechte Lot bringt, ohne sich ihrem Kind zu erkennen zu geben und ohne den Schwiegersohn von der Gefährdung seiner Ehe wissen zu lassen.
Redend wird in diesem Konversationslustspiel eine Welt aufrechterhalten, die bereits substanzlos geworden ist, in der das Sein banal, der Schein alles ist. Die Haltung, die Pose werden als Selbstzweck eingesetzt und dienen zu einer spielerischen, ästhetischen Inszenierung des Lebens.
Nach aufwendiger Einkaufstour boten ausgewählte Stilmöbel, ein erlesenes Goldrandservice, ein prunkvoller Kronleuchter und ein massiv wirkender Kamin den Akteuren ein stilvolles Salonambiente. „Die Mücken“ und ihr Publikum genossen besonders Wildes pointiert ironischen Wortwitz und seine geistreichen Aphorismen.

„Das ist das Besondere am Theater: Die Leute bleiben so lange zusammen, arbeiten zusammen, und es existiert nichts für sie außer dem Stück…“, resümiert Woody Allen 1995. Diese Erfahrungen machten auch wir bei der Inszenierung der Bühnenfassung des Films „Bullets over Broadway“ mit dem deutschen Titel „Kugeln überm Broadway“ (1999), einer Backstage-Story um die Entstehung eines Theaterstücks. Allen setzt sich auf hintergründig-ironische Weise mit dem Theaterbetrieb auseinander und persifliert zugleich das Genre des Gangsterfilms. Er historisiert den Stoff und projiziert ihn in die späten 20er Jahre, in die Zeit und Welt des organisierten Verbrechens, der Killer und Mafiabosse, der Prohibition, des Tingeltangels und des Broadway.
Sehr umfangreiche Proben- und besonders aufwendige Bühnenarbeiten zu diesem Stück im Stück schweißten uns von Monat zu Monat, am Ende von Tag zu Tag vor der Premiere immer enger zusammen. Am Abend der Generalprobe und nur einen Abend vor der Premiere stürzten aber nach Mitternacht die Kulissen ein, der Hauptdarsteller brach entnervt zusammen, erlitt einen Weinkrampf und ergriff verzweifelt die Flucht. Mit ratlosen Gesichtern, nach endlos scheinenden Diskussionen und einer langwierigen Suche brachen wir diese entscheidende Probe ab. Am nächsten Morgen rückten mehrere Väter mit Akkubohrern und Schraubzwingen in der Aula an und den Kulissen zu Leibe. Sie erkannten die prekäre Situation sofort und erklärten, am Abend hinter den Kulissen mitzuwirken. Sie bohrten, schraubten, lösten und bohrten und schraubten während der entscheidenden Umbauphasen. Danke! (► Plakat)
Die Mitglieder der Schauspieltruppe, allen voran die Hauptdarsteller, der aufstrebende, aber wenig talentierte Bühnenautor (Tim Ukena), die alternde Diva (Frida Froböse), der theaterbegeisterte Gangster (Jonathan Hartmann) und das unglaublich unbegabte, lispelnde Revuegirl (Frederike Potthoff), glänzten bei der Premiere in ihren skurrilen Rollen und strapazierten die Lachmuskeln des Publikums. „Mit minutenlangem Beifall bejubelten die Zuschauer die grandiose Leistung der Theater-AG.“ (NWZ, 19.7.1999)

Nach diesem großen Erfolg mussten wir zunächst eine Umbruchssituation kompensieren, da viele Darsteller die AG aufgrund ihres Alters verlassen mussten. Dafür stellten sich aber gleich nach den Sommerferien viele neue Theaterbegeisterte ein, die sich mit Eifer auf mögliche neue Theaterprojekte einlassen wollten, vieles lasen und manches anspielten. Am Ende entschlossen wir uns mit dem neu gebildeten Ensemble mit „Willi Tell“ (2000) für eine Persiflage auf den klassischen Wilhelm-Tell-Stoff von Friedrich Schiller. In dieser witzig-polemischen Neufassung wird die Fabel ironisch nacherzählt und so „gegen den Strich gebürstet“ (Müller), dass sie einer idealisierten Deutung widerspricht und zugleich den an Schiller anknüpfenden Mythos vom Schweizer Freiheitskampf demontiert. Kein Tell-Spiel ohne Rütli-Schwur, Apfelschuss und Geßlers Tod in der hohlen Gasse. Mit viel Spaß stürzten sich die Neulinge auf die überzeichneten Figuren, u.a. auf den Titelhelden Willi (Andreas Wagho), einen ausgemachten Deppen, Pantoffel- und Maulhelden, seine ewig nörgelnde Ehefrau (Janine Köpken) und seine vorlaute Tochter (Julika Hartmann), eine ausgemachte „Nervtüte“.

Beunruhigt und betroffen von den menschenverachtenden, verbrecherischen Aktionen rechtsextremer Gewalttäter in Deutschland um die Jahrtausendwende wollten wir mit dem Stück „Die Welle“ (2001) – nach einem Experiment von Ron Jones von Reinhold Tritt in der „Westersteder Fassung“ – ein Zeichen gegen rechtsradikale Gewalt und antidemokratische Tendenzen in der Gesellschaft setzen. Die Inszenierung sollte zu kritischer Reflexion über Themen wie Autorität, Anpassung, Gehorsam, Faschismus und Widerstand anregen. (► Plakat)
In dem Stück geht es um das Experiment eines Geschichtslehrers (Julius Everling) an einer kalifornischen Highschool zum Thema „Nationalsozialismus“ und die Frage, warum die Bevölkerung dem Holocaust fast tatenlos zugesehen habe. Damit löst er eine Bewegung aus, die immer größeren Zulauf gewinnt, die „Welle“. Durch das Einüben von Disziplin und eine straffe Organisation werden die Mitglieder unmerklich zur Aufgabe ihrer Individualität zugunsten eines unselbstständigen und angepassten Verhaltens gezwungen. Die Eigendynamik des Versuchs und die aufkeimende Kritik daran führen zu dem Entschluss, einen riskanten Abbruch des Experiments zu wagen.
Bei beiden ausverkauften Aufführungen mit bis zu 50 Darstellern auf den Bühnenbrettern trafen wir offenbar den Nerv der Zeit. „Beklemmend aktuell die Problematik, ging das eindringliche Spiel unter die Haut, schienen Grenzen zwischen Realität und Fiktion teilweise fließend. […] Ein Theaterabend, der noch lange nachhallt.“ (NWZ, 26.4.2001)
Überregionale Anerkennung erhielt die Produktion bereits bei einer Voraufführung während einer Aktionswoche zum Thema „Wir gegen Gewalt, Rechtextremismus und Antisemitismus“. Dazu eingeladen hatte ein Bündnis von Gewerkschaften, Kirchen, Polizei, Landkreis und Stadt Osnabrück, Parteien und Schulen.

„Der Docht kohlt!“ Dieses geflügelte Wort zieht sich als Leitmotiv durch die Vaudeville-Komödie „La Cagnotte“ (2002) von Eugène Labiche in einer Bearbeitung von Botho Strauß („Das Sparschwein“) und wurde zum Motto unserer Probenarbeiten. In der Provinzposse reisen selbstherrliche, aber anständige Honoratioren einer französischen Kleinstadt (Sara Bohemann, Knut Cramer, Frerk Froböse, Julika Hartmann, Danja Mourad) mit den Mitteln ihres vollen Spielkassensparschweins in die „Hauptstadt der Welt“. Gauner, hinterhältige Kellner und voreilige Polizisten bringen sie schnell um ihr Geld, so dass sie schließlich mittellos auf einer Baustelle übernachten müssen. Als die untereinander gewohnten Gehässigkeiten, Eifersüchteleien, Sticheleien und Wortgefechte sich zuspitzen und zu Handgreiflichkeiten eskalieren, erscheint in der Stunde der größten Not ein Retter, so dass sie am Ende in die bornierte Wohlanständigkeit ihres bürgerlichen Lebens zurückkehren können. (► Foto Nr. 2)
Mit Vergnügen erinnern wir uns auf allen Treffen an eine gelungene Theaterfahrt nach Münster, die uns zu einer engen Gemeinschaft formte. Auf der Rückreise zeigten sich die gewonnene Spielfreude und das gewachsene Zusammengehörigkeitsgefühl an einer Haltestelle, wo nach dem kurz eingeworfenen Satz „Der Docht kohlt“ die Wartezeit auf den Bus verkürzt wurde, indem die Schauspielerinnen und Schauspieler spontan aus dem ersten Akt rezitierten und damit die umstehenden Fahrgäste köstlich unterhielten.
Rollensicher und mit mitreißender Begeisterung stellte die Schauspieltruppe bei beiden Aufführungen dann auch vor heimischem Publikum ihr komödiantisches Talent unter Beweis. Immer wieder gab es Szenenapplaus, u.a. bei dem pantomimischen Schlachten eines Schweins in einem Nobelrestaurant und für den ostfriesischen Zungenschlag eines französischen Großbauern (Knut Cramer).

Das Stück „Romulus der Große“ (2003) von Friedrich Dürrenmatt erwies sich aus vielerlei Gründen als Glücksgriff, wie auch aus dem begeisterten Brief der theaterengagierten Zuschauerin Gunthild Zimmermann zu entnehmen ist:
„Komische Stücke mit ernstem Hintergrund und vielen Akteuren eignen sich wunderbar für eine große Truppe. Teamwork ist gefordert für eine gute Ensemble-Leistung, und die wurde in hohem Maße erbracht: (► Foto Nr. 3)
Das säulengeschmückte Bühnenbild bekam noch vor dem Beginn Szenenapplaus, den auch die jungen, schönen Hofdamen schon einzeln auf der Treppe für ihre liebreizend angebotenen Eier hatten einheimsen dürfen. Da die Hühnerzucht, des Kaisers einziges Interessengebiet – statt Regierung zur Rettung des römischen Imperiums, eine zentrale Rolle spielt, durften Hühner nicht nur auf der Rampe sitzen, sondern lebendig gackernd und pickend die Handlung passend kommentieren. Hühnereier sind auch des germanischen Eroberers Odoaker wahre Leidenschaft, nicht die Niederschlagung des römischen Imperiums. Eier liegen überall herum, über Eier kommen die eilig herbeistürmenden Unglücksboten beinahe zu Fall. Das Aussehen und u.a. auch die phänomenale Zunahme der Tagesproduktion eines einzigen Huhns bis auf drei Eier sind für die beiden Protagonisten Lebensinhalt. Deshalb kommt es zum gegenseitigen Kniefall voreinander, zur demütigen Bitte um Übernahme der Regierungsverantwortung. […]
Christoph Bredemeyer als Romulus brachte fast ein typisches ‚Weichei’ auf die Bühne, um sich durch Haltung, Ausdruck und Gebärde dann aber in einen Respekt gebietenden Fürsten zu verwandeln. Er und Odoaker (Marcel Bohemann) sind Dürrenmatts Helden, die die Menschlichkeit und friedliches Zusammenleben der Völker über Eroberungszüge, Unterdrückung und Machtausübung stellen. Diese Philosophie der Humanität, der bewussten Menschenführung verkörpern beide auch stimmlich überzeugend. […]
Auffällig war der fein dosierte Einsatz von Denkpausen, überhaupt der Stille. Nur so konnte auch der übermüdete Reiterpräfekt Spurius Titus Mamma (Bodo Neemann), der einfach nicht den Fall der Stadt Parvia melden soll, so fabelhaft komisch wirken. Ebenso komisch wie ernst zu nehmend wirkte der dickbäuchige Cäsar Rupf (Gesche Huger), genial kostümiert, beringt und bemützt.
Die Lichtregie möchte ich extra positiv betonen, nicht minder die zwei feinen musikalischen Zwischenspiele des Bläserquintetts. […]
Ich freue mich schon heute auf die kommenden Aufführungen“.

Diesem weltpolitisch bedeutsamen Untergang des römischen Imperiums folgte die turbulente Inszenierung eines marginalen Zwischenfalls in einem italienischen Fischerdorf. In „Streit in Chiozza“ (2004) gelingt es Carlo Goldoni, seine Komödie zum Spiegel und Ausdruck des Lebens in einem italienischen Fischerdorf zu machen. Die Unmittelbarkeit, mit der Goldoni die in Freude und Wut entflammten Charaktere aufeinandertreffen lässt, steht für ein „vielstimmiges Theater“, das das Leben einer Gemeinschaft realistisch wiederzugeben versucht, in der keiner den anderen in seiner Bedeutung überragt. „Diese Weiber, zerstampfen sollte man sie wie die Krabben“, ruft Fischer Paron Toni (Marcel Bohemann) verärgert über das Gezänk der Frauen, das an einer „gebackenen Kürbisschnitte“ entflammt ist. Diese hat Lucietta (Teresa Grüne) dem etwas einfältigen Toffolo (Tim Leuchters) abgeschwatzt und provoziert damit Klatsch und Tratsch, die in Eifersüchteleien und Sticheleien ausarten. Luciettas Verlobter Titta Nane (Bodo Neemann) sagt sich nach entsprechenden Anspielungen aus gekränktem Mannesstolz von seiner Braut los. Um dieses zentrale Ereignis herum ergeben sich weitere heftige Wortgefechte, die den Lärm des nichtigen Anlasses noch steigern und ein furioses Spektakel verursachen.
Barfuß, in zeitgerechter Kleidung wirbelten 31 Akteure über die frisch lackierten Bühnenbretter und präsentierten die italienischen Hitzköpfe so temperamentvoll, dass die Stellwände durch das Auf- und Zuschlagen von Türen und Fenstern und die heftigen Prügelszenen zu kippen drohten.

Auf eine nie dagewesene Resonanz stieß die schwierige Umsetzung des sehr umfangreichen literarischen Werkes „Sofies Welt“ (2005) von Jostein Gaarder nach einer Bühnenfassung von Karlheinz Komm. (► Plakat)
Immer mehr Zuschauer strömten in die Aula, so dass erstmals weitere Stuhlreihen aufgestellt werden mussten. 25 namentlich aufgeführte Figuren in phantasievollen Kostümen agierten in den unterschiedlichsten Szenen – Jugendzimmer, Park, Imbiss, Puppenspielbühne mit selbst gestalteten Handpuppen nach professioneller Anleitung im Männeken-Theater/Hengstforde, Kino, antiker Gerichtssaal, Wald aus frisch geschlagenen Imhoffschen Birken und Fichten – und führten das Publikum ein in die Welt der abendländischen Philosophie von Sokrates über Platon und Aristoteles bis zu Hegel.
Kurz vor ihrem 15. Geburtstag erhält die Titelfigur Sofie (Cara Bruns) eine mysteriöse Postkarte mit der Frage: „Wer bist du?“ Gemeinsam mit dem ihr zunächst unbekannten Alberto Knox (Nico Linn), einem Philosophielehrer, geht sie dieser Frage nach und setzt sich an verschiedenen Schauplätzen, wo sie auf einen rätselhaften Puppenspieler (Franziska Froböse) und fiktive literarische Figuren wie den kleinen Prinzen, Aladin und Harry Potter trifft, immer intensiver mit existentiellen Fragen auseinander. Schließlich entdeckt sie Entsetzliches: Sie selbst ist nur eine fiktive Gestalt, deren Handeln offenbar von einem Schriftsteller festgelegt ist. Die Grenzen zwischen Sein und Schein verschwimmen. Die jugendliche Protagonistin und ihr Lehrer wehren sich gegen ihre Determiniertheit, aber beide müssen damit umzugehen lernen, dass sie unfrei sind, doch dafür unsterblich. Die nachdenklich gestimmten Zuschauer blieben mit dem Gefühl zurück, womöglich selbst auch nur Teil einer fiktiven Welt zu sein; sie dankten den Akteuren für das eindringliche Spiel mit einem nicht enden wollenden Applaus.

Nach anfänglichem Zurückschrecken vor dem unorthodoxen Stoff – in simplifizierter Verkürzung: „Ein 18-Jähriger treibt es mit einer 80-Jährigen!!!“ – wagten wir es, den Kino-Klassiker „Harold und Maude“ (2006) auf die Bühne zu bringen, von dessen Titelfiguren der Kölner Stadtanzeiger mit einem der Stimmung des Films durchaus angemessenen Augenzwinkern schrieb, sie seien „das denkwürdigste Kinopaar seit King Kong und der weißen Frau“.
Der junge Harold Chasen (Sönke Brakenhoff), aus einer ebenso noblen wie reichen Familie, findet keine Freude am langweiligen und durch Normen bestimmten Leben des gehobenen Bürgertums und entwickelt eine merkwürdige, skurrile Sehnsucht nach dem Morbiden. Seiner zahlreichen Selbstzerstückelungs- und Suizidinszenierungen überdrüssig, engagiert seine dominante Mutter (Marie-Christin Beeken) zunächst einen Psychiater und dann ein Eheanbahnungsinstitut, um ihn in die gesellschaftliche Normalität einzubinden. Harold, der sich diesen Bemühungen erfolgreich widersetzt, begegnet auf einer Beerdigung der fröhlich-anarchischen Maude (Wiebke Ahlers), die ihm zeigt, dass man weder auf Freiheiten noch auf unbekümmerte Individualität verzichten muss.
Mit Feuereifer stürzte sich die jugendliche Schauspieltruppe auf die unkonventionelle Lovestory der Flower-Power-Zeit mit ihren skurrilen Figuren. Schon bei den Proben kam es immer wieder zu Lachsalven, wenn z.B. der Pfarrer (Jan-Georg Bohlken) fast würgend versuchte, das sexuelle Verhältnis zwischen Harold und Maude zu b-b-beschreiben. Andererseits führten die intensiven Dialoge und die dichte Atmosphäre dazu, dass wir den Proben mit angehaltenem Atem folgten und die Darsteller am Szenenende mit Applaus belohnten. Neben ungewöhnlichen Besorgungen für die Ausstattung der Bühnenbilder, wie Kletterausrüstung, erotische Skulptur, Cloche und Sarg, mussten auch die technischen Herausforderungen mit großem Engagement angegangen werden: So tüftelten einige über die normalen Probenzeiten hinaus in ihrer Freizeit z.B. am Odorophon, einem Geruchswiedergabegerät, oder an der Hängevorrichtung für den ersten inszenierten Selbstmord durch Strangulieren.

„ATTACKE!!!“ Mit diesem Schlachtruf und Trompetenstößen bringt der persönlichkeitsgestörte Teddy Brewster (Hendrik Loysa), der sich für den Präsidenten Theodore Roosevelt hält, die gutbürgerliche Nachbarschaft in Brooklyn um ihren Schlaf und das Westersteder Publikum in der Komödie „Arsen und Spitzenhäubchen“ (2007) auf seine Seite.
Dieser Klassiker ist ein Evergreen des schwarzen Humors mit groteskem Witz und absurder Phantasie, wobei der Gegensatz zwischen bürgerlicher Idylle und Abgründen des Grauens für ein makabres Vergnügen sorgt: Zwei liebenswürdige alte Damen (Katharina Agena und Alke Rickels) befördern mit Hilfe eines vergifteten Holunderweins als Ewigkeitsbeschleuniger alleinstehende ältere Herren aus purem Mitleid ins paradiesische Jenseits und betten die Mordopfer in ihrem Keller zur letzten Ruhe. Dabei geht Teddy ihnen im Glauben, er hebe Schleusen für den Panama-Kanal aus, tatkräftig zur Hand. Als sein Bruder Mortimer (Jann Eyhusen), ein Theaterkritiker, zufällig eines Tages über eine Leiche im Salon stolpert, ist er schockiert, glaubt aber noch, der Probleme Herr werden zu können. Doch die Angelegenheit spitzt sich mit dem Besuch seines seit Jahren verschollenen und inzwischen steckbrieflich gesuchten zweiten Bruders Jonathan (Eike Ahlers) zu, der mit einer weiteren Leiche im Gepäck bei den Tanten Unterschlupf sucht. „Der Wahnsinn war immer schon in unserer Familie, aber jetzt galoppiert er“, stöhnt der ratlose Mortimer angesichts dieser Widrigkeiten.
Auch außerhalb der Komödienhandlung mussten wir Widrigkeiten meistern: Der aufwendige Bühnenbau über drei Etagen – Keller, Salon, Treppenhaus zum Obergeschoss (ein Dank an Herrn Logemann) – bei vollkommen offener Bühne verhinderte, entsprechenden Regieanweisungen zum Trotz, einen Abgang und Wiederauftritt auf unterschiedlichen Bühnenseiten, was schließlich nur durch beherzte Gänge über das Dach des Z-Baus zu realisieren war.
Eine gespielte Leiche ließ sich durchaus über den Bühnenboden schleifen, auch schultern und in eine Truhe legen, aber ohne Gefahr für Leib und Leben nicht durch ein geöffnetes Kulissenfenster befördern. Daher danken wir Beate Uhse für die Erfindung der Gummipuppe, die sich in Westerstede auch leicht ausleihen ließ.
(► Foto Nr. 4)

„Ihr, die Ihr abmagert, an Appetitlosigkeit und Schlafstörungen leidet, die Ihr in der schmerzhaften Anstrengung, Euer Innenleben zu analysieren, die sanfte Muskelspannung des Lachens vergessen habt (dies ist das schwerwiegendste Symptom Eurer Krankheit), oh Ihr, die Ihr am Leben verzweifelt, hört mich an: Probiert einmal Labiche, eine Stunde nach dem Essen, und schluckt tapfer den ‚Florentinerhut’ – die Nerven werden sich entspannen, die Heiterkeit wird sich wieder einstellen, die Verdauung kommt in Bewegung und die Lebensfreude kehrt ins Herz zurück, in Wellen, zwischen den Erschütterungen des heilenden Lachens“, so sieht Guy Parigot (1922-2007), Schauspieler und Regisseur, die Wirkung der Boulevardkomödie „Der Florentinerhut“ (2008). Dieses Ziel, die Menschen gut zu unterhalten und sie für neunzig Minuten aus ihrem kläglichen Einerlei zu befreien, verfolgten 33 Akteure an zwei Abenden im Wonnemonat Mai. Vor großer Kulisse genossen sie es, in der temporeichen Inszenierung von Schauplatz zu Schauplatz zu eilen und sich in immer wechselnden Kostümen vom Nachthemd mit der Nachtmütze über das aufreizende Mieder bis zum Ball- und Brautkleid, Frack und Zylinder zu präsentieren.
Als sich in dem Lustspiel Fadinard (Mattes Schmerdtmann), der Held des Stückes, anschickt, seine Braut Hélène (Cosima Lippert) zu ehelichen, überstürzen sich kurz vor der standesamtlichen Trauung die Ereignisse. Kleine Ursachen, große Wirkungen – der Lawineneffekt. In diesem besonderen Fall: Fadinards Pferd frisst den mit Mohnblumen garnierten Strohhut der Madame Beauperthuis (Inken Rüdebusch), die ihre teure Kopfbedeckung abgelegt hat, damit diese während des sündhaften Treibens mit einem schneidigen Offizier (Maximilian Reicht) im Gebüsch keinen Schaden nimmt. Aus Angst, ihr alter, eifersüchtiger Gatte (Thore Eilers) könnte auf den Seitensprung aufmerksam werden, fordert sie Fadinard auf, umgehend ein identisches Modell zu beschaffen. Dieser jagt aufgeregt nach dem Hut, während die Hochzeitsgesellschaft langsam ungeduldig wird und ihrerseits nach Fadinard zu jagen beginnt.
Besonders die Kuss- und Bettszenen amüsierten das Publikum, das diese Einlagen immer wieder mit Szenenapplaus belohnte. Damit hatten sich viele, viele Probenstunden ausgezahlt, in denen das Berühren der Lippen akribisch analysiert, wiederholt von den nicht betroffenen Mitakteuren vergnügt eingefordert und am Ende in seiner umfassenden Dramaturgie einstudiert wurde – Hände an Partner, Kopf zurück, Augen geschlossen, Mund leicht geöffnet … Kuss geben und Position mindestens fünf Sekunden halten; dies alles, um die vielfältigen Facetten amouröser Abenteuer zu entwickeln und die Aula mit knisternder Erotik zu erfüllen.

Erotisch ging es nach diesen intensiven Schulungen auch in der nächsten Saison weiter. Aufgrund des großen Ensembles entschieden wir uns ein zweites Mal für eine volkreiche Goldoni-Komödie, „Der Fächer“ (2009), deren Handlung sich wie in „Streit in Chiozza“ (2004) an einem Nichts entzündet. Der junge adlige Evaristo (Sören Lindemann) möchte die Aufmerksamkeit seiner angebeteten Candida (Cosima Lippert) auf sich ziehen, indem er ihr einen Fächer entsprechend den Gepflogenheiten durch eine dritte Person, die junge Bäuerin Giannina (Nadine Willms), überreichen lässt. Bis der Fächer die Schöne erreicht, erlebt er eine Odyssee durch die Hände fast aller beteiligten Figuren: er wird verkauft, anvertraut, abgezwungen, verloren, gestohlen, versteckt, verschenkt und wieder zurückverlangt. Die sporadische Berührung mit dem Fächer macht die Charaktere und die zwischen ihnen waltenden Spannungen sichtbar; in den Sympathien, die wie immer bei Goldoni den einfachen Leuten gelten, und der Antipathie gegen den Adel tönt leise schon das Grollen der Französischen Revolution auf.
Die Darstellung der dörflichen Welt Italiens im 18. Jahrhundert mit Bauern, Jägern, Handwerkern, Krämern und Gastronomen in vielen kurzen und prickelnden Szenen, belebt von nie abreißender Handlung und ständiger Bewegung bei nur knappen Dialogen stellte alle vor große Herausforderungen; so mussten die Mitwirkenden beispielsweise den Umgang mit Flinte und Jagdhund, Spinnrad, Ahle und Leisten sowie das Servieren mit viel Fleiß erlernen und üben. Nur so war es am Ende möglich, alle „dramatis personae“ auf einer großen Piazza bei ihren täglichen Beschäftigungen vorzustellen – den Schuster hämmernd, den Apotheker Medizin stoßend, die Bäuerin beim Spinnen und die Standespersonen in ihrem Müßiggang.
„Das Lustspiel faszinierte und amüsierte die Besucher gleichermaßen. Die Akteure […] überraschten dabei mit viel Spiellust, Vergnügen, Ernsthaftigkeit und einer gehörigen Portion Professionalität. […] Die Zuschauer ließen sich von einem Bühnenbild gefangen nehmen, welches in seiner Größe und räumlichen Tiefe seinesgleichen suchen dürfte.“ (NWZ, 24.3.2009)
Wie unsere Produktionen gezeigt haben, bedarf es im schulischen Rahmen nur eines kleinen Funkens, um den homo sapiens, den homo faber und den homo ludens zu aktivieren. Bei der Inszenierung eines Theaterspiels werden Fantasie, Spontaneität und Kreativität freigesetzt, gleichzeitig aber auch soziale Kompetenzen wie Verantwortungsbewusstsein und Zuverlässigkeit, Empathie und Toleranzfähigkeit gefördert sowie die wichtigen Prozesse der Selbstfindung für die Persönlichkeitsentwicklung unterstützt. In diesem Sinne: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Schiller)