Programm

LA CAGNOTTE (DAS SPARSCHWEIN)

Seit Jahr und Tag treffen sich bei ihren wöchentlichen Kartenrunden die Honoratioren von La Ferté-sous-Jouarre, einem Provinznest mitten in Frankreich: der Rentier und Aktionär Champbourcy, seine Tochter Blanche und Léonida, seine altjüngferliche Schwester, sowie der Apotheker Cordenbois, der Landwirt Colladan und der Notar Félix Renaudier. Angesichts der bevorstehenden Schlachtung ihres vollen Spielkassen-Sparschweins sehen sie sich verpflichtet, „etwas Unvergessliches, Epochemachendes zu veranstalten“, über das abzustimmen ist. Da es Tochter und Schwester des Rentiers leidenschaftlich nach Paris zieht, gehen der Abstimmung gewisse Absprachen voraus, die dann streng demokratisch, aber doch mit vorherbestimmtem Ausgang über die Bühne gebracht wird. Voller Abenteuerlust und Vergnügungssucht brechen alle nach Paris auf, der „Hauptstadt der Welt“.
Doch Paris entpuppt sich als Ort von Gaunern, hinterhältigen Kellnern und voreiligen Polizisten. Auf die törichten Provinzler lauern an jeder Ecke neue Gefahren, und gleich über die erste geraten sie ins Straucheln. Als sie in einem Nobelrestaurant kräftig übers Ohr gehauen werden und sich weigern, die Rechnung zu bezahlen, landen sie auf einer Polizeiwache und werden für eine berüchtigte Gaunerbande gehalten. Nach ihrer Flucht geraten sie in den Salon einer zwielichtigen Heiratsvermittlerin, um sich schließlich fast mittellos auf einer Baustelle wiederzufinden, wo sie ein letztes Mal zur Kasse gebeten werden. Als die untereinander gewohnten Gehässigkeiten sich zuspitzen und zu Handgreiflichkeiten eskalieren, erscheint in der Stunde der größten Not ein Retter, so dass sie am Ende in die bornierte Wohlanständigkeit ihres bürgerlichen Lebens zurückkehren können.

Der Übersetzung und Bearbeitung von Botho Strauß, der in der Komödie viel gesellschaftliche Wirklichkeit und damit „Ansätze zur sozialen Komödie“ gespeichert sah, ist es zu verdanken, dass Labiches „Sparschwein“ heute nicht nur im Boulevardtheater geschlachtet wird, sondern auch auf den ersten Bühnen des Landes.

Aufführungsrechte: Verlag der Autoren, Frankfurt am Main


 ZUR BEARBEITUNG
(von Botho Strauß)

Das besondere Interesse an der Vaudeville-Komödie La Cagnotte, an gerade diesem Labiche-Stück aus dem Jahre 1864, entwickelte sich aus den folgenden Beobach-tungen, die auch die Richtlinien der Bearbeitung bestimmen.

ERSTENS. La Cagnotte ist keine Salon-Komödie, die sich ausschließlich auf eine amouröse Verwicklungsgeschichte konzentriert.[…] La Cagnotte erzählt dagegen eine sich offen und vorwärts entwickelnde Geschichte, die sich über mehrere Stationen und Schauplätze erstreckt. […] [So] gibt es eine Reihe von großen realistischen Situationen und Tableaus (die Kartenspieler-Runde, das Mittagessen in einem Pariser Lokal, eine Baustelle als letzter Fluchtort), die sehr viel reichhaltigere und anschaulichere Eindrücke von der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Autors und seiner Zeit vermitteln, als es die erotischen Salon-Komödien vermögen. […]
Der französische Surrealist Philippe Soupault erinnert in einem Essay über Labiche daran, daß „zu keiner Zeit … eine so zahlreiche Klasse so viel Geld gehäuft und ange-sammelt [hat] wie die Bourgeoisie des Second Empire“ in Frankreich zwischen 1851 und 1870. Dieser Epoche und dieser Klasse, zumindest ihren mittleren und unteren Schichten, entstammt das Personal von La Cagnotte, was, wörtlich übersetzt, etwa heißt, die Spielkasse, der Pott. […] Dies häuslich-banale Ding-Symbol beschirmt die Existenz einer Gruppe von honorigen Provinzbürgern: ihre auf kleine, private Formen begrenzte Geldakkumulation mit dem Ziel größtmöglicher finanzieller Sicher-heit. Allerdings leben diese Herrschaften in Wirklichkeit keineswegs vom Spargroschen – sie sind allesamt recht wohlhabend, beziehen auskömmliche Renten aus Aktien oder Staatsanleihen, aus verpachteten Landgütern usw.
Aber das Abenteuer der Komödie wird doch ausschließlich von diesem Sonderfonds, dem Sparschwein-Kapital, […] in Bewegung gesetzt. Eine Vergnügungsreise nach Paris, in die „Hauptstadt der Welt“, wird mit diesen Mitteln bestritten – und sie endet mit der Schreckens-Vision eines finanziellen Ruins von katastrophalen Ausmaßen…
Dabei hebt die Bearbeitung gen Schluß die potentiellen Kräfte zu Kriminalität und Anarchie hervor, die in den rechtschaffenen Bürgern geweckt werden, wenn sie sich im Zustand der vollkommenen Mittellosigkeit befinden.


 ZWEITENS. Held des Sparschweins ist nicht eine Einzelperson, sondern eine Gruppe – die Bouillotte-Spieler aus La Ferté-sous-Jouarre. […] Die Bearbeitung dankt dieser dramaturgischen Vorgabe die stärkste Anregung; es erschien besonders reizvoll, einen Theaterabend lang die äußere und innere Erlebnisgeschichte einer merkwürdigen Gruppe vorzuführen, einer Gruppe von sehr eigensinnigen, bornierten, vitalen und doch sehr zusammengehörigen Individuen. Gegenüber dem Original wurden dabei die psychologischen Binnenbeziehungen, […] die dauernd wechselnden „Bündnisse“ und „Fronten“ innerhalb der Gruppe stärker herausgearbeitet und zum Teil um hinzuerfundene Dialoge und kleine Szenen erweitert.
Die Bemühungen um eine psychologische Einrichtung dieser Gruppen-Totale […] hatte zur Folge, daß das Gemütsleben dieser Figuren mit uneingeschränktem, gewichtigem Ernst zu behandeln war. Auf der Grundlage ihrer heiligen, unantastbaren Borniertheit entwickelten sie eine bewundernswerte Willensstärke und eine große Leidenschaftlichkeit; inmitten der nichtigsten Zänkereien ereifern sie sich mit pathetischem Zorn, und wenn ihre trivialen Sehnsüchte fehlschlagen, so erleiden sie es mit tragödienhaftem Schmerz. […]

DRITTENS. Es konnte selbstverständlich nicht das Ziel der Bearbeitung sein, La Cagnotte in ein gehobenes Drama des psychologischen Realismus zu stilisieren. […] Labiche bleibt der konventionsbewußte Vaudeville-Autor, der für einen hübschen Witz, ein geschicktes Beiseite oder einen farcenhaften Szeneneinfall bereitwillig auf psychologische Plausibilität und realistische Wahrscheinlichkeit verzichtet. […] Da durch den bloßen Verzicht auf einige typische, aber schwer übertragbare Mittel des französischen Vaudeville nicht nur am spielerischen Instrumentarium, sondern auch an der notwendigen Unvernunft der Komödie Schaden entstanden wäre, wurde der Versuch unternommen, diesen Mangel mit einem andersartigen Zeichen von Irrationalität auszugleichen: mit der – pointiert einsetzenden – grotesken, überlebens-großen Metapher. Ein Beispiel dafür gibt die Figur des jungen, von Labiche nicht besonders stark profilierten Notars Félix. Er wurde, gleichsam die Wortbedeutung des Namens verkörpernd, zu einer Emblem-Figur der Komödie, denn nur so ein unwahrscheinlicher Wunderknabe kann die zerrütteten Bürger am Ende aus ihrem grenzenlosen finanziellen und moralischen Bankrott erlösen, aus dem sie mit eigenen Kräften niemals wieder herausgefunden hätten.


 LA CAGNOTTE (DAS SPARSCHWEIN)

Spielleitung   Beate Ladewig, Ulrike Manßen
Bühne und Technik   Frerk Froböse, Carsten Neemann, Tim Nienaber
Bühnenarbeiten   Bastian Zwingmann, Marcel Bohemann
Musik   Inga Dühring, Kerstin Peper
Plakat und Programm   Franzi Kreft, Frerk Froböse, Julius Everling

Théophile Champbourcy, Rentier   Frerk Froböse
Léonida, seine Schwester   Sara Bohemann
Blanche, seine Tochter   Julika Hartmann
Colladan, Landwirt   Knut Cramer
Cordenbois, Apotheker   Danja Mourad
Félix Renaudier, Notar   Bodo Neemann
Baucantin, Steuereinnehmer   Tim Leuchters
Richard, Lehrer   Darinka Haase
Cocarel, Heiratsvermittlerin   Gesche Huger
Béchut, Kriminalassistent   Fabian Wendt
Sylvain, Colladans Sohn   Talke Heidkroß
Benjamin, Oberkellner   Jenny Grotheer
Philippe, Hilfskellner   Fabian Mäckler
Joseph, Diener bei Cocarel   Sarah Klug
Erster Polizist   Viviane van Diedenhoven
Zweiter Polizist   Rieke Peters
Tricoche, Kolonialwarenhändler   Ann-Kathrin Lück
Chalamel, Obsthändlerin   Teresa Grüne
Statisten   Felicitas Kotzias, Janin Lehmann, Kosima Leonhard,
Christina Lück, Tim Nienaber


„Ich liebe es, Theater zu spielen. Es ist viel realistischer als das Leben.“
Oscar Wilde

 

 

Für die freundliche Unterstützung danken wir:

– Abraxas Jugendkreativwerkstatt
– Arbeitsloseninitiative Ammerland
– Buchhandlung Lesezeichen
– famila Verbrauchermarkt
– Freilichttheatergemeinschaft Westerstede e.V.
– Hotel Busch
– Mainusch Metallbau Schleiferei-GmbH
– Margots Galerie
– Meinen Kamine – & Kachelofenbau
– Ostfriesische Landschaft (Kostümfundus, Aurich)
– Restaurant Signal
– Weindiele Ammerland